Als Evie aus dem Schloss trat, trug sie bereits denselben schwarzen Mantel wie Gavriel und seine Männer. Ihr feuriges Kleid und ihr silbernes Haar waren nun unter diesem dicken und luxuriösen schwarzen Mantel verborgen.
Während Gavriel sich mit einem Mann unterhielt, der ebenfalls denselben schwarzen Mantel trug, sah sich Evie um. Sie drehte sich um und sah auf. Sie wusste, dass es dunkel war, aber sie konnte trotzdem nicht umhin, zu bewundern, wie wunderschön das Schlossgelände war. Selbst im Dunkeln war deutlich zu erkennen, wie groß das Schloss war, und auch der Garten im Vorhof war riesig. In ihren lebhaften Gedanken konnte sie sich bereits den Anblick dieses Ortes am helllichten Tag vorstellen, und sie musste zugeben, dass dieser Ort schöner und größer war als der berüchtigte Lilienpalast im Südreich. Als sie sich umsah, dachte sie, dass es ein Irrtum gewesen sein musste, zu glauben, der Kaiser würde Gavriel nicht bevorzugen. Er muss der beliebteste Mann des Kaisers sein, und deshalb hat er das schönste Schloss des Reiches bekommen.
"Frau", lenkte Gavriel ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er näher an sie herantrat. "Bevor wir gehen, möchte ich dir meine Männer vorstellen", sagte er, und fünf Männer standen in einer Reihe ein paar Schritte vor ihr. Die Kapuzen ihrer Mäntel waren heruntergelassen. Evie schluckte unhörbar angesichts ihrer überwältigenden Präsenz. Drei von ihnen waren genauso groß wie Gavriel, aber die beiden anderen waren riesig. Evie erinnerte sich sofort an die riesigen und furchterregenden Generäle, die ihren Vater und die menschlichen Kaiser im Südlichen Reich begleitet hatten. Tatsächlich strahlten diese fünf Männer, obwohl sie sehr entspannt aussahen, eine mächtige Aura aus, die alle menschlichen Generäle übertraf, denen sie je begegnet war.
"Guten Abend, Eure Hoheit, ich bin Samuel", sagte der größte von ihnen mit langen braunen Haaren. Das erste, was Evie auffiel, waren die beiden großen Narben, die von der Mitte seiner Stirn bis hinunter zu seiner linken Wange verliefen. Sie versuchte ihr Bestes, nicht auf die Narben zu starren, weil sie so überrascht war, aber Evies Neugier war geweckt, denn es war allgemein bekannt, dass Vampire sich selbst heilen, und wenn sie geheilt werden, bleiben keine Narben zurück. Wie kam es also, dass dieser Mann eine Narbe hatte?
"Mein Name ist Levy. Schön, Sie kennenzulernen, Mylady." Der Mann mit dem fröhlichen und freundlichen Lächeln stellte sich als nächstes vor. Sein Haar war ebenfalls braun, aber er hatte einen gepflegten Haarschnitt, der zu seinem guten Aussehen passte. Das erste, was Evie an ihm auffiel, war sein breites, freundliches Lächeln.
"Ich bin Luc, Mylady." Der dritte Mann war fast so groß wie der große Samuel. Er wirkte distanziert und ausdruckslos. Sein zerzaustes goldenes Haar stach hervor, und Evie fand, dass sein helles Haar - obwohl es wunderschön war - genau das Gegenteil von dem vermittelte, was zu seiner eher grauen Persönlichkeit passte.
"Ich bin Zolan, Mylady." Der vierte Mann hatte eine lebhafte Stimme und ein energisches Lächeln. Er hatte langes blondes Haar, das locker nach hinten gebunden war, und Evies Augen fielen sofort auf den einzelnen goldenen Ohrring in seinem Ohr.
Der letzte Mann hatte einen unschuldigen Blick. Er war genauso groß wie die anderen, aber er sah jung aus. Seine blauen Augen und sein lockiges, aschgraues Haar stachen hervor. "Reed, Mylady", sagte er schlicht.
"Freut mich, Sie alle kennenzulernen." Evie war ein wenig verwirrt, was die Vorstellungsrunde zu bedeuten hatte. In den menschlichen Reichen war das nicht üblich. Ein Soldat brauchte sich nicht vorzustellen, es sei denn, die Person, der er diente, fragte nach seinem Namen. Außerdem waren es definitiv nicht Evies Männer. Sie gehörten zu ihrem Mann. Warum stellten sie sich bei ihr vor?
Als hätte Gavriel ihre Gedanken gelesen, sprach der Fürst. "Diese fünf sind meine vertrautesten Männer, und sie werden dich bewachen, wenn du dich außerhalb unseres Schlosses aufhältst. Es wäre also gut, wenn du dir ihre Namen und Gesichter einprägst."
Evie zog die Stirn in Falten. Sie bewachten sie? Warum musste sie bewacht werden? Vampire können sie doch nicht berühren und ihr schaden, oder?
Bevor Evie eine Frage stellen konnte, kam ein anderer Mann auf sie zu. Der Mann wirkte nicht einschüchternd, und er war auch nicht so ein hochgewachsener Baum wie Gavriel und die anderen fünf. Er trug ein freundliches Lächeln und sein Auftreten war fast menschenähnlich. Er hatte sogar das gleiche rote Haar wie ihre beiden menschlichen Zofen. Doch er war eindeutig kein Mensch. Er war ein Vampir. Ein schwacher Vampir, vielleicht?
"Das ist mein Butler, Evielyn. Er wird von nun an auch dein Butler sein. Zögern Sie nicht, ihn zu fragen, wenn Sie etwas brauchen." sagte Gavriel und der Butler lächelte sie an.
"Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Eure Hoheit. Ich bin Elias."
Evie nickte leicht, um seine Begrüßung zu bestätigen, und dann beugte sich Gavriel zu ihr vor. "Bist du bereit?", fragte er. "Wir werden keine Kutsche benutzen, da wir bereits spät dran sind. Ich werde dich in meinen Armen tragen, Frau."
"O-okay", konnte Evie gerade noch nicken, und ihr Einverständnis entlockte Gavriel ein leichtes Lächeln. Evie vermied es, ihm ins Gesicht zu schauen, um nicht zu sehen, wie sein Blick schelmisch funkelte.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, beugte er sich vor und hob sie so mühelos hoch, als wäre sie federleicht. „Leg deine Hände um meinen Hals, meine Frau", sagte er sanft, und Evie tat, wie ihr geheißen wurde. Ihre Augen mieden beharrlich den Anblick seines herrlichen Gesichts. Dies war die Lösung, die sie für sich gefunden hatte, um der Versuchung zu widerstehen. Sie sollte ihn nicht länger ansehen, als unbedingt nötig.
Ihre Hände um seinen Hals waren so locker, dass sie es sogar vermied, seine nackte Haut zu berühren. Doch in dem Augenblick, als er hoch in die Luft sprang, schlossen sich Evies Hände instinktiv enger um seinen Hals.
Sie hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen. Es war das erste Mal, dass sie so etwas erlebte. Flogen sie etwa?! Sie hatte sich schon immer gefragt, wie es wohl wäre zu fliegen, doch jetzt, da sie es am eigenen Leib spürte, war es tatsächlich eher beängstigend.
Als sie fühlte, dass er landete, hauchte Evie die Luft aus, von der sie gar nicht wusste, dass sie sie angehalten hatte, und machte sich bereit für den nächsten Sprung. Doch der Mann, der sie hielt, bewegte sich nicht mehr.
"Öffne die Augen, Evielyn", hallte seine tiefe Stimme, und sie öffnete langsam die Augen. „Ich habe dir versprochen, dass ich dir die Stadt zeigen werde, während wir unterwegs sind."
"Aber... du hast gesagt, wir sind schon spät dran."
Er lächelte sie an. Das Mondlicht war in dieser Nacht so hell, dass sie sein überirdisches Gesicht deutlich sehen konnte. „Ja, aber das ist in Ordnung. Niemand kann uns tadeln, weil wir zu spät kommen." Sie sah einen kecken und dennoch gefährlichen Schimmer in seinen Augen. Warum war er so sorgenfrei? Wollten sie nicht den Kaiser treffen? Er gilt als das mächtigste und furchteinflößendste Wesen in diesem Imperium und vielleicht sogar auf dem ganzen Kontinent.
"Schau nur, Evielyn. Das ist der Anblick der Stadt bei Nacht."
Evie konnte sich nicht länger zurückhalten. Sie drehte langsam ihren Kopf von ihm weg und ihr Mund öffnete sich vor Staunen bei dem Anblick, der sich ihr bot. Die kaiserliche Stadt der Vampire unterschied sich völlig von dem, was sie sich vorgestellt hatte. Sie war nicht der gruselige und leblose Ort, den sie erwartet hatte. Überall leuchteten Lichter, die Schatten unzähliger Burgen ragten über bestimmte Bereiche der Stadt hinaus, und die Straßenlaternen ließen sie so magisch aussehen, als blicke sie auf die kaiserliche Feenstadt. Wie konnte ein Ort, dem nachgesagt wurde, höllisch zu sein, am Ende so betörend malerisch wirken!?
"Gefällt es dir?", fragte er, und Evie nickte, ohne sich zurückhalten zu können. „Es ist wundervoll. Aber wir sollten weiterziehen. Wir können auf dem Rückweg noch herumschlendern."
Im nächsten Augenblick flogen sie wieder durch die Luft. Evie kämpfte gegen ihren Instinkt, die Augen zu schließen, und als sie hinabschaute, während sie durch die Lüfte schwebten, war sie überrascht von dem Nervenkitzel und der Aufregung, die sie verspürte. Sie hatte keine Angst mehr und fand tatsächlich Gefallen daran. Oh mein Gott, sie flog!
So vertieft in diese unglaubliche Erfahrung, hätte sie Gavriel beinahe gefragt, warum er angehalten hatte. Zum Glück hörte sie ihn sprechen, bevor ihr eine peinliche Frage entfliehen konnte. "Wir sind angekommen", sagte er, als er Evie absetzte.
Evie drehte sich um und war sprachlos, als sie sah, dass sie bereits vor einem riesigen Doppeltor standen. Offensichtlich das Tor zum Palast. Als sie sich umdrehte, kam ein noch größerer Garten in Sicht. Mein Gott, wie groß war dieser Garten?
"Lass mich dir mit deinem Umhang helfen, meine Frau", lenkte Gavriel ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, und Evie stand regungslos da, während Gavriel ihr behutsam die Kapuze des Umhangs herunterzog. Während er ihr den Umhang abnahm, flüsterte er ihr ins Ohr: „Bist du bereit?"