Der Tag nach dem Kuss war eine der schwersten Prüfungen, denen Amaya je begegnet war. Die Ereignisse der letzten Nacht schienen sich wie Schatten über ihre Gedanken zu legen, und der Gedanke an Jackson ließ ihren Puls schneller schlagen, auch wenn sie versuchte, sich abzulenken. Sie wusste, dass sie mit ihm sprechen musste, aber jedes Mal, wenn sie sich vorstellte, wie sie ihm gegenüberstand, überkam sie ein Gefühl der Unsicherheit. Was sollte sie ihm sagen? Was konnte sie ihm sagen?
Es war, als hätte der Kuss etwas in ihr geweckt, das sie nicht kannte, das sie nicht kontrollieren konnte. Ihre Gedanken wirbelten, und trotzdem fühlte sie sich gefangen in einem Moment der Unentschlossenheit. Jackson hatte sie geküsst – und dann war er einfach gegangen. Ohne ein Wort, ohne eine Erklärung. Und das schürte in ihr nur noch mehr Fragen und Zweifel.
Amaya schob sich durch die belebten Flure der Akademie. Ihre Schritte waren schnell, doch ihre Gedanken waren in einem verworrenen Wirbel. Der Unterricht war für heute abgeschlossen, und sie hatte sich bewusst von Clara und den anderen zurückgezogen, um Zeit zu finden, um nachzudenken. Sie konnte es nicht länger ignorieren. Sie musste herausfinden, was dieser Kuss wirklich bedeutete – und vor allem, was er für sie selbst bedeutete.
Als sie um die Ecke bog, stieß sie fast mit jemandem zusammen. Sie trat einen Schritt zurück und sah sich in die Augen von niemand anderem als Jackson.
„Amaya", sagte er, und seine Stimme war ruhig, fast gleichgültig, doch in seinen Augen lag ein Hauch von etwas anderem. Etwas, das sie nicht ganz einordnen konnte.
„Jackson", erwiderte sie scharf, obwohl sie sich innerlich wie in einem Dämmerzustand fühlte. „Ich muss mit dir reden."
Er zögerte einen Moment, als würde er abwägen, wie er reagieren sollte, dann nickte er langsam. „Gut, komm mit." Er drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort voraus. Amaya folgte ihm, die Anspannung in ihrem Körper wuchs mit jedem Schritt, den sie tat.
Sie verließen den Hauptflur der Akademie und gingen in einen ruhigeren Bereich, einen langen Gang mit hohen Fenstern, durch die das Licht des späten Nachmittags schimmerte. Es war der perfekte Ort für ein Gespräch ohne Störungen, aber der Gedanke, was sie ihm sagen wollte, ließ ihre Worte stocken.
„Also, was willst du wissen?", fragte Jackson, als sie vor einem der Fenster stehen blieben. Er verschränkte die Arme und sah sie an, als hätte er sich schon längst auf eine Antwort eingestellt.
„Was war das gestern?", fragte Amaya mit einer Mischung aus Wut und Verwirrung in ihrer Stimme. Sie wollte, dass er sich entschuldigte, dass er erklärte, was es mit diesem Kuss auf sich hatte. Es war nicht nur die Geste selbst, die sie irritierte, sondern die Tatsache, dass er einfach gegangen war, als wäre nichts passiert.
Jackson schnaubte leise und schüttelte den Kopf. „Du willst wirklich darüber reden?" Es klang fast spöttisch, und für einen Moment war Amaya versucht, einfach aufzugeben. Doch dann riss sie sich zusammen und trat einen Schritt näher an ihn heran.
„Ja, ich will wirklich darüber reden", sagte sie bestimmt. „Du küsst mich, drehst dich dann einfach um und gehst, ohne ein Wort zu sagen. Was soll das? Was erhoffst du dir von mir?"
„Was ich mir erhoffe?" Er zog eine Augenbraue hoch. „Du bist echt hartnäckig, weißt du das?"
„Hör auf, dich herauszureden!", entgegnete sie scharf. „Ich will wissen, was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Warum hast du es getan?"
Jackson starrte sie einen Moment lang an, und Amaya konnte fast spüren, wie die Luft zwischen ihnen kälter wurde. Dann, mit einem tiefen Atemzug, trat er einen Schritt auf sie zu. „Es war... ein Fehler", sagte er schließlich, die Worte kamen langsam, als ob er sie sorgfältig abwägen musste. „Ein Moment. Mehr nicht."
„Ein Moment?", wiederholte Amaya, unfähig, die Worte richtig zu verstehen. „Und was soll das heißen? Dass du es bereust?"
Er schüttelte den Kopf, doch es war eine abwehrende Geste, die Amaya nicht wirklich überzeugte. „Es ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst. Ich... ich wollte nicht, dass du es falsch verstehst. Aber ich weiß, dass es dir genauso schwer fällt, damit umzugehen wie mir."
Amaya konnte spüren, wie sich etwas in ihrem Inneren zusammenzog. War das seine Entschuldigung? War das alles, was er zu sagen hatte? Aber anstatt ihm eine harsche Antwort zu geben, hielt sie inne und sah ihn genau an. Sie musste ihn verstehen, auch wenn ihre eigenen Gefühle wie ein Sturm in ihrem Kopf tobten.
„Warum... warum hast du mich überhaupt geküsst?", fragte sie schließlich, ihre Stimme leiser, als sie es beabsichtigt hatte. Ihre Wut war nicht verschwunden, aber etwas anderes war an ihre Stelle getreten – eine Verletzlichkeit, die sie sich nicht erklären konnte.
Jackson schaute für einen Moment weg, seine Hände verkrampften sich leicht, als er nach den richtigen Worten suchte. „Ich weiß es nicht", gab er zu, fast tonlos. „Es war... alles so verdammt verwirrend. Du bist nicht wie die anderen. Du verstehst die Dinge anders. Du – du ziehst mich an, aber gleichzeitig hasse ich die Art, wie du dich mir entgegenstellst. Es hat mich verrückt gemacht."
„Du bist ein Idiot", sagte Amaya, doch ihre Stimme war nicht mehr so scharf wie vorher. „Du hast keine Ahnung, was du mir antust. Du hast keine Ahnung, wie viel du durcheinanderbringst."
Jackson atmete tief ein, als wollte er etwas sagen, doch es kam nichts. Stattdessen trat er einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Es tut mir leid", murmelte er schließlich, „aber ich kann nicht einfach so tun, als ob nichts zwischen uns wäre. Es ist schwer zu erklären, aber ich... ich brauche Zeit, um das zu verstehen."
Amaya sah ihn lange an, dann nickte sie langsam. „Wir sind beide durcheinander, was?", fragte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. „Ich weiß nicht, was hier gerade passiert, aber... vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als ich dachte."
Jackson sah sie an, als wollte er etwas erwidern, doch bevor er dazu kam, hatte Amaya bereits die Wende gemacht und war den Gang entlanggegangen. Sie fühlte sich leer und voll zugleich, verletzt und zugleich erleuchtet von dem, was sie gerade erfahren hatte.
Die Unsicherheit war noch nicht verschwunden, aber eines war klarer geworden: Jackson war nicht einfach nur der arrogante Junge, der sie niederdrücken wollte. Und sie war nicht einfach nur die Waise, die sich beweisen wollte. Irgendwo zwischen diesen beiden war etwas entstanden – etwas, das sie noch nicht ganz verstanden, aber nicht ignorieren konnte. Und vielleicht, dachte sie, war das der erste Schritt, um endlich herauszufinden, was zwischen ihnen wirklich war.