Evelyn navigierte durch das geschäftige Treiben der Straßen von Vespera City, während sie immer wieder einen Blick zu Elias auf dem Beifahrersitz warf. Er trug Kopfhörer und eine grimmige Miene, offensichtlich verärgert.
Als Kind war Evelyn stets das am wenigsten bevorzugte Kind ihrer Eltern gewesen, ein praktisches Ziel für deren Frustrationen. Diese Dynamik begann sich zu ändern, als Elias sechs Jahre alt wurde und sich schützend vor sie stellte, die Schläge der Eltern auf sich nehmend. Diese Rolle hatte er seitdem nie abgelegt.
Für Elias spielte es keine Rolle, ob Evelyn seine leibliche Schwester war oder nicht. Trotz ihres Altersunterschieds von acht Jahren und ihrer Stellung als Stiefgeschwister hatte sie ihm die Liebe zuteilwerden lassen, die ihre Eltern ihm vorenthielten. Er würde sie immer unterstützen, selbst wenn die ganze Welt sie beschuldigte. Doch das Problem war, dass sie ihn immer noch wie einen Jungen behandelte, obwohl er inzwischen eine beeindruckende Erscheinung war.
Evelyns Augen leuchteten auf, als sie seine Lieblingseisdiele erblickte. Geschickt durch den Verkehr steuernd, parkte sie das Auto in der Nähe.
"Ich werde zu meiner ersten Stunde zu spät kommen", murrte Elias. Zwei Straßen weiter lag seine Schule, doch selbst wenn er rennen würde, wäre er nicht pünktlich.
"Mein kleiner Bruder ist sauer", kommentierte Evelyn, während sie ihren Sicherheitsgurt löste. "Wie kann ich ihn nur so zur Schule schicken?" Sie strich ihm durchs Haar und setzte hinzu: "Ich werde es mit deinem Lieblingseis wieder gutmachen."
Elias schnaubte, aber ein widerwilliges Lächeln umspielte seine Lippen. Er konnte ihr nicht lange böse sein, besonders wenn sie so liebenswürdig war und ihm erlaubte, die Schule für den Tag zu schwänzen. Gemeinsam betraten sie den Laden, und eine fröhliche Glocke läutete über der Tür.
Das süße Aroma frisch gebackener Waffeln umgab sie sofort und hob ihre Stimmung. Elias nahm auf einem Stuhl an der Glasfront Platz, von wo aus sie die belebte Straße beobachten konnten. Derweil gab Evelyn ihre Bestellung an der Theke auf. Obwohl es noch früh am Tag war, waren einige Tische bereits von anderen Kunden besetzt, was die Beliebtheit des Ladens und die Schwierigkeit, abends einen Platz zu finden, unterstrich.
Evelyn kehrte mit einem Tablett zurück und während sie das frische Eis genossen, konnte Elias nicht widerstehen, nach der vergangenen Nacht zu fragen. Er hatte die Party verpasst, weil er an einem Schulwettbewerb in Velara City teilgenommen hatte, und war spät nach Hause gekommen, um die Gerüchte aufzuschnappen. "Hast du wirklich die Voodoopuppe gestoßen?"
"Was denkst du?", antwortete Evelyn gelassen und löffelte ihren Schokoladensundae.
"Das würdest du nie tun", murmelte Elias mit finsterer Miene. So sehr er auch wollte, dass sie jene Ratte vermöbelte, Evelyn würde Annabelles Tricks eher ertragen als mitzumachen.
"Wenigstens hat jener Verlierer seine Show abgeblasen", sagte Elias und bezog sich damit auf Vincent. Es hatte ihn geschmerzt, sie so leiden zu sehen – wie sie sich wochenlang in ihrem Zimmer verkroch, weil dieser Idiot sich nach den Neuigkeiten des Geburtsaustausches anders verhalten hatte. Und William hatte ihre Bitten abgelehnt, die Verlobung aus geschäftlichen Gründen zu lösen, und die Entscheidungsgewalt allein Vincent überlassen.
Evelyn zuckte mit den Schultern, ihre Mine wurde bei seiner Erwähnung leicht unsicher. Vier Jahre lang hatte sie Vincent wirklich geliebt, und sein Verrat hatte ihr Herz gebrochen. Doch nun freute sie sich darauf, ihn zum Narren zu machen, wenn Annabelle ihr wahres Gesicht zeigen würde. Das wäre eine Show, die man sich gut mit ein paar kalten Getränken ansehen könnte!
Während sie ihr Eis genossen und leichte Gespräche führten, kam plötzlich ein kleines Mädchen zu ihrem Tisch.
"Kann ich mich hier setzen?", fragte sie und blickte sie mit zwei Eisbechern in den Händen liebenswert an. Das Mädchen war entzückend, mit tiefen, rehbraunen Augen und mittellangem Haar, das zu zwei Zöpfen gebunden war. Mit einem rosa Rucksack schien sie bereit für den Kindergarten in ihrer hellblauen Uniform zu sein.
Evelyns Gesicht erhellte sich mit einem Lächeln. Sie liebte Kinder und vermisste den entzückenden kleinen Elias, der sich immer an sie schmiegte, im Gegensatz zu dem aufsässigen Hünen, der nun neben ihr saß. "Natürlich!" erwiderte sie und half dem Mädchen, sich auf den freien Stuhl neben sich zu setzen.'"Bist du hier etwa alleine?" fragte Elias skeptisch, da das kleine Mädchen scheinbar ohne Begleitung war. Selbst der Angestellte am Tresen wirkte besorgt und sprach mit seinem Vorgesetzten, während er in ihre Richtung wies.
Kianas strahlendes Lächeln verwandelte sich bei seiner Frage in ein Schmollgesicht. Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und antwortete: "Papa kommt bald." Ihr Lehrer würde ihm sicher schon mitgeteilt haben, dass sie nicht zum Unterricht erschienen war, und er würde sie über einen Ortungschip finden und sich bald seinem ungestümen Ärger darüber stellen müssen, dass sie schon wieder die Schule ausgelassen hatte.
Evelyn nickte, vielleicht waren ihre Eltern ja auf dem Parkplatz und das Mädchen hatte es aus Vorfreude nicht mehr ausgehalten und war in den Laden gestürmt. Elias hakte nicht weiter nach, staunte aber darüber, wie das Mädchen Evelyn ablenkte.
"Es ist lecker", murmelte Kiana mit einem Mund voll Eis. Ein fröhliches Kichern entkam ihr, was Evelyn zum Lächeln brachte.
"Aber du hättest wirklich zwei verschiedene Geschmacksrichtungen mitbringen sollen, nicht nur Erdbeere. Schokolade und Heidelbeere sind auch klasse hier", erwiderte Evelyn lächelnd. Sie zog ein Taschentuch hervor und reichte es dem Mädchen, da sich das Eis zu einem niedlichen Schnurrbart auf ihrem Gesicht geformt hatte.
Kiana blinzelte unschuldig bei ihrem Vorschlag. Ihr Blick fiel schnell auf den Becher von Elias, dessen Blaubeereis funkelte und sie magisch anzog. Sie schluckte ihr Eis hinunter und fragte: "Könntest du mir dann so ein Eis holen, großer Bruder? Papa bezahlt dir das später."
"Na klar!" sagte Evelyn sofort und gab Elias einen kleinen Schubs, damit er dem entzückenden Mädchen seinen Wunsch erfüllte.
Während Elias weg war, lächelte Evelyn Kiana an und begann ein Gespräch. "Wie heißt du denn, kleine Maus?"
"Kiana."
"Das ist aber ein hübscher Name!" gab Evelyn zurück, lächelte weiter und half dem Mädchen, das Gesicht sauber zu wischen. "Und wie alt bist du, Kiana?" Kiana, die ihr Eis weiter genoss, zeigte vier Finger, um ihr Alter anzuzeigen, da ihr Mund voll Eis war.
Evelyns Lächeln wurde noch breiter. Sie war gerade dabei weiterzusprechen, als die Glocke an der Ladentür klingelte und die Ankunft eines weiteren Kunden verkündete. Evelyn blickte auf und erschrak, als sie einen gutaussehenden Mann mit besorgter Miene hereinlaufen sah. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, wer es war, und sie hielt vor Überraschung die Luft an.
Was hatte das Zevianische Imperium hier verloren?
"Oh je, Papa ist da", sagte Kiana mit ängstlicher Stimme, was Evelyns Schock noch vergrößerte. Das Mädchen sprang sofort von seinem Stuhl auf und versteckte sich hinter Evelyns Stuhl. Diese Dame war so nett und freundlich zu ihr gewesen – sie würde ihr bestimmt helfen, oder? Kiana warf Blicke zu ihrem Vater.
Evelyn sah zu Kiana und dann zurück zu Zevian, der am Eingang stand. Wie von selbst erhob sie sich von ihrem Platz, angezogen von seinen nächtlich-schwarzen Augen. Er galt als Gottesgeschenk an die Gesellschaft, nicht nur optisch, sondern auch wegen seiner Fähigkeiten, und sie verstand nun, warum.
Noch bevor Evelyn sich von der Überraschung erholen konnte, durchdrangen Schüsse die Luft, Kugeln zersplitterten die Glaswände des Geschäfts. Schreie drangen durch die einst beschauliche Stimmung und Evelyn stolperte zurück, als drei Angreifer, ganz in Schwarz gekleidet, einen Meter vor den zerborstenen Wänden zum Stehen kamen.
Ihr Blick traf auf einen der Angreifer; sein Gesicht war von einer Maske verdeckt, doch die Bosheit in seinen Augen jagte ihr Angst ein. Der Mann erhob plötzlich seine Waffe und zielte direkt auf sie. Bevor Evelyn reagieren konnte, drückte er ab.'