Der Anblick ihrer Umgebung ließ Evie schlucken, und eine Gänsehaut überzog ihre Haut. Nicht nur die schneidende Kälte, sondern vor allem die beklemmende Atmosphäre des Tals hatte es ihr angetan. Das Wort „unheimlich" schien nicht auszureichen, um diesen Ort zu beschreiben. Jeder der zahllosen Bäume stand kohlschwarz und ohne Blätter da, als wären sie alle verbrannt worden. Schwarze Raben hatten es sich auf den Ästen bequem gemacht und starrten sie an, als würden sie direkt in ihre Seele blicken. Keine Pflanze war zu erkennen, die noch Lebenszeichen von sich gab.
Eine dicke Schneeschicht hatte den Boden zu Eis erstarren lassen. Der Nebel hing so dicht, dass es trotz der frühen Stunde schon wie in der Dämmerung wirkte. Die Dunkelheit schien bald hereinzubrechen, und Evie malte sich aus, wie aus dem undurchdringlichen Nebel die gefürchteten Bestien hervortreten könnten.
„Ich – ich denke, wir sollten weitermachen", stammelte sie.
Gavriels Kopf schnellte herum, und er sah sie an.
„Aber du bist offensichtlich –"
„Mir geht's gut."
„Nein, das bist du nicht."
Evies Blick traf den seinen, und sie war überrascht, die Besorgnis in seinen mondgleichen Augen zu entdecken, eine tiefe Sorge, die sie kurz stocken ließ. Aber dann redete sie sich schnell ein, dass der Prinz wahrscheinlich befürchtete, sie könnte sterben oder Ähnliches. In seinen Augen galt sie schließlich als empfindliches Geschöpf, angesichts der äußerst vorsichtigen und sanften Art, wie er sie berührte.
„Es ist… kalt hier draußen", murmelte sie und kletterte ohne Zustimmung ihres Ehemanns zurück in die Kutsche. Sie würde Unbehagen in einem fahrenden Gefährt jederzeit dem Verweilen an einem solchen Ort vorziehen. In diesem Moment wollte sie nichts sehnlicher als das Tal hinter sich lassen und das Dorf erreichen, wo es sicher war. Zudem hatte sie ihm ja die Wahrheit gesagt; es war eisig kalt. Sie spürte schon die klirrende Kälte, die sie bei jedem Atemzug schaudern ließ.
Im Inneren der Kutsche warf sie einen Blick auf Gavriel und beobachtete, wie er sich durchs Haar fuhr, bevor er dem Kutscher das Zeichen gab, weiterzufahren.
So setzte sich die Reise fort, und sie ritten in schweigsamer Stille weiter. Die beschwerliche Fahrt lähmte ihre Gedanken, und die Temperatur sank immer weiter, je tiefer sie sich in das Dunkle Tal hineinbewegten.
Gavriel hatte sie unterwegs wortlos in eine gesteppte Decke gehüllt, als ihm auffiel, dass sie zu zittern begann. Doch das war nicht genug. Evie stammte aus dem Südlichen Reich, einem Land, das für gewöhnlich warm und sonnig war. Sie war diese extreme Kälte nicht gewohnt. Noch nie hatte sie eine derartige Kälte erlebt. Die Decke allein reichte bei weitem nicht aus, um sie zu wärmen.
Die erbarmungslose Kälte verschlang Evies Ängste und Zweifel, und sie kroch noch tiefer in den Mantel ihres Mannes.
„Ich bin erleichtert", sagte er.
„Hm?"Es scheint, als hättest du nicht mehr so viel Angst vor mir."
Evie erstarrte in seinen Armen. Er hatte Recht... ihr Herz hatte irgendwann aufgehört, vor Nervosität und Angst zu hämmern, und nun kuschelte sie sich tatsächlich ohne Vorbehalte an ihn. Sie war selbst darüber erstaunt.
"Es scheint, du hast dich selbst überrascht."
Unter ihrem Ohr spürte sie, wie sich seine Brust in was wie einen amüsierten Seufzer hob und zwang sie, zu seinem Gesicht aufzusehen.
"Lass mich deine Hand wärmen", bot er an, als sie Blickkontakt aufnahmen. Evies kalte Ohren erwärmten sich und sie senkte ihren Blick, doch schließlich hob sie langsam ihre Hand an.
Ohne ein Wort zu sagen, nahm Gavriel ihre Hand und begann, ihre Handfläche und die kalten Finger zu reiben. Seine Hand war stark, samtig und... warm.
"Du bist... wirklich warm. B-bist du wirklich ein Vampir?" Sie presste die Lippen zusammen, als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte.
Auch Gavriels Hand hielt inne und Evie biss sich nervös auf die Lippe. "Es tut mir leid. Ich ... es ist nur ... ich bin nur –"
"Ich bin es, Evielyn. Es gibt einen Grund dafür, dass mein Körper warm ist. Aber zweifellos bin ich ein Vampir."
Evie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte mehr sagen, doch sie hatte Angst, ihn zu beleidigen oder zu verärgern. Sie wollte ihn nicht erzürnen. Sie wollte seine Augen nicht rot werden sehen oder dass er seine Fänge zeigte. Sie dachte, sie würde diese Reise möglicherweise nicht überstehen, wenn das geschähe. Sie könnte vor Angst und der eisigen Kälte sterben.
Als sie spürte, wie sich Evies Körper versteifte, wahrscheinlich mehr wegen ihres Kommentars als der Kälte, fuhr Gavriel damit fort, mit ihrer Hand zu spielen und überraschte sie erneut. Anscheinend war er nicht beleidigt und sie konnte nicht anders, als erleichtert aufzuatmen. Er begann, ihre Finger zu verschränken, und drückte dann sanft mit seinem Daumen auf ihre Handinnenfläche, mit einer bewussten Zärtlichkeit. Es war so unglaublich beruhigend, dass Evie es nicht anders konnte, als es zu genießen. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich in dieser Situation wiederfinden und es genießen würde, sicher in seinen Armen, in den Armen eines Vampirs, zu sein. Sie hatte sich darauf eingestellt, in einem Alptraum zu leben, aber warum kam ihr das wie ein Traum vor? Sie konnte nicht anders, als zu denken, dass sie wohl träumte.
Das Gefühl war so angenehm, dass Evie einschlief, kurz bevor er aufhörte, mit ihrer Hand zu spielen. Trotzdem hielt er ihre Finger weiterhin umschlungen.
Doch nachdem sie das selige Nickerchen genossen hatte, wurde sie durch das abrupte und heftige Anhalten der Kutsche wachgerüttelt. Obwohl Gavriel sie festhielt, um zu verhindern, dass sie sich durch die heftige Bewegung verletzte, ließ Evie dennoch einen erschrockenen Laut aus.
Dann trat eine unheimliche Stille ein. Sie sah ihren Mann mit großen Augen an, aber er blieb ruhig. Er hielt ihre Schultern und flüsterte: "Hab keine Angst. Bleib einfach hier drinnen. Ich werde sie beseitigen. Versuche gar nicht erst, zu spähen, denn es könnte sein, dass dir nicht gefällt, was du siehst."
Bevor sie einen Ton äußern konnte, hatte Gavriel schon die Tür aufgerissen, sprang geschwind hinunter und schloss die Tür fest hinter sich.