1.
Akio war den gesamten Tag in seinem Zimmer geblieben und kam nicht einmal für das Mittagessen heraus. Er saß in einer Zimmerecke, die Knie an die Brust gezogen, und starrte ins Leere, während seine Gedanken kreisten.
A: „Was ist so falsch daran? Wieso will Mama mich nicht rauslassen? Ich kann doch nicht für immer zu Hause bleiben. Was soll ich tun?"
Seine Gedanken wurden abrupt von der Stimme unterbrochen, die wie ein allwissender Begleiter aus dem Dunkeln zu ihm sprach.
?: „Du weißt also nicht, was du jetzt tun sollst?"
A: „Ja, ich habe keine Ahnung. Ich komme hier nicht raus. Sie hat mich eingesperrt."
?: „Das war zu erwarten. Du hättest nicht so unvorsichtig sein dürfen."
A: „Was meinst du?"
?: „Du hast ihr zu viel gezeigt, Akio. Sie vertraut dir nicht mehr. Und wer könnte es ihr verübeln? Du hast keine Kontrolle über deine Wut gezeigt."
A: „Aber ich will nur, dass sie versteht, dass ich Kevin endlich bezahlen lassen muss."
?: „Und das wird sie nicht verstehen. Sie hat ihre eigene Vorstellung davon, was richtig ist – und die hat nichts mit dir zu tun."
A: „Aber was soll ich jetzt tun? Ich komme hier nicht raus."
?: „Es gibt immer einen Weg, Akio. Du musst sie nur davon überzeugen, dass du ihre Sprache sprichst. Gib ihr, was sie hören will."
A: „Du meinst, ich soll lügen?"
?: „Ist es wirklich eine Lüge, wenn es notwendig ist? Sie hat doch auch schon gelogen, um dich zu schützen, oder?"
A: „Ja, das stimmt…"
?: „Dann ist es nur gerechtfertigt. Du willst auch nur das Richtige tun, Akio. Lass sie hören, was sie hören will, und du wirst deinen Weg finden."
Die Stimme klang ruhig und vertraut, und ihre Worte schienen in Akios Kopf immer mehr Sinn zu ergeben.
?: „Du bist klüger, als sie denkt. Vertraue mir. Ich werde dir helfen, sie zu überzeugen."
A: „Wie willst du das machen?"
?: „Das ist nicht wichtig. Überlass das mir. Entspann dich einfach. Alles wird gut."
Die Stimme wurde immer sanfter, und Akio fühlte, wie die Anspannung in ihm nachließ. Er legte sich auf sein Bett und schloss die Augen. Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen, als hätte die Stimme ihn in einen sicheren Hafen geführt.
(2)
Es waren ein paar Stunden vergangen, und Akio stand aus seinem Bett auf. Der Hunger ließ ihn nicht länger ruhig schlafen. Seine Schritte waren schwer und unkoordiniert, während er zur Küche schlurfte. Doch er war nicht allein. Dort stand bereits Kiyomi, die anscheinend dasselbe Bedürfnis verspürte.
A: „Mama? Was machst du hier?"
K: „Das könnte ich dich auch fragen."
A: „Ich habe Hunger bekommen und konnte nicht schlafen."
K: „Das ist bei mir genauso."
A: „Aber du hattest doch heute etwas zu Mittag!?"
K: „Ich konnte heute einfach nichts essen. Mein Magen lag schwer."
A: „Ach so… Mama, ich wollte dir noch etwas sagen."
K: „Was ist denn?"
A: „Es tut mir leid, wie ich mich heute verhalten habe. Es war dumm von mir, so zu reagieren. Ich weiß nicht, was mit mir los war."
Kiyomi sah Akio überrascht an. Sein Ton war ruhig und entschuldigend, aber irgendetwas fühlte sich seltsam an. Vielleicht lag es an der Wortwahl oder der ungewohnten Gelassenheit in seiner Stimme.
K: „Ach Akio… Ich finde es gut, dass du dich entschuldigen willst, aber können wir das nicht morgen früh klären? Ich bin unglaublich müde und hungrig."
A: „Ja, tut mir leid. Ich wollte es einfach nur sagen."
K: „Ich bin wirklich froh, dass du es verstanden hast, Akio."
A: „Ja, es war ein großer, dummer Fehler von mir. Ich habe wohl überreagiert."
K: „Das stimmt wohl… Aber nimm dir jetzt was zu essen, und dann gehen wir wieder schlafen. Wir müssen beide morgen früh aufstehen."
A: „Ja, ist gut."
Kiyomi entwich ein kleines Lächeln, als sie Akio ansah. Sie spürte, wie die ursprüngliche Kälte, die von ihrem Sohn ausgegangen war, plötzlich nicht mehr so stark war. Auch wenn sie nicht verstand, woher dieser Wandel kam, war sie mit dem Ergebnis zufrieden.
K: „Ich hatte an keinem Punkt Zweifel, dass du es nicht verstehen würdest, Akio. Ich weiß, dass es manchmal sehr schwer sein kann, gegen diese inneren Gedanken anzukämpfen, aber ich bin sehr stolz auf dich, dass du es schlussendlich doch überstanden und dich richtig entschieden hast."
Akio sagte nichts weiter und ging in sein Zimmer zurück. Kiyomi war erleichtert und fühlte sich, als sei ein schwerer Stein von ihrem Herzen gefallen. Sie legte sich ins Bett und konnte endlich wieder ruhig schlafen.
3.
Am nächsten Morgen war die Stimmung in der Wohnung ungewöhnlich. Kiyomi wirkte fröhlich und gelassen, beinahe ausgelassen. Sie summte ein Lied, während sie das Frühstück vorbereitete, und ihre Bewegungen hatten eine ungewohnte Leichtigkeit. Akio konnte nicht anders, als zu bemerken, wie gut gelaunt sie war.
A: „Du bist heute echt gut drauf, Mama. Was ist los?"
K: „Nichts Besonderes, Akio. Ich bin einfach froh, dass wir gestern Abend reden konnten."
A: „Hm…"
Akio wusste nicht, wie er auf ihre Fröhlichkeit reagieren sollte. Es fühlte sich falsch an, als wäre etwas nicht ganz echt. Doch ihre Stimmung war ansteckend, und er ließ sich von der friedlichen Atmosphäre mitreißen.
Kiyomi steckte an diesem Morgen besonders viel Liebe und Energie in das Frühstück. Es war eines der schönsten, die sie in letzter Zeit zusammen hatten. Akio genoss den Moment, auch wenn ihn ein leises Unbehagen nicht ganz losließ.
A: „Mama, ich gehe heute wieder alleine zur Schule, okay?"
K: „Bist du sicher? Ich dachte, ich könnte dich begleiten."
A: „Nein, ist schon gut. Ich schaffe das alleine."
K: „Na gut… aber pass auf dich auf, ja?"
A: „Ja, mach ich."
Kiyomi war zwar etwas enttäuscht, aber sie akzeptierte seine Entscheidung. Sie wollte ihm den Freiraum geben, den er brauchte.
Auf dem Weg zur Schule gingen Akios Gedanken erneut zu den Ereignissen des vorherigen Tages zurück. Die Worte der Stimme hatten ihn überzeugt, und er war sicher, dass sein Plan funktionieren würde. Heute war der Tag, an dem er alles wieder ins Lot bringen würde.
A: „Wenn ich Kevin vor allen bloßstelle, werden sie endlich sehen, dass ich im Recht bin. Dann verstehen sie auch, warum ich so gehandelt habe."
Die Stunden bis zur großen Pause zogen sich quälend langsam dahin. Akio konnte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Er wollte den Moment nicht verpassen, in dem er seine Freunde in den Plan einweihen und endlich handeln konnte.
Als die Pause endlich begann, rannte Akio zum Treffpunkt und fand Lirien, Auron und Sophie bereits wartend vor. Sie schienen froh, ihn zu sehen, doch ihre Fröhlichkeit verflog schnell, als Akio begann, ihnen seinen Plan zu erklären.
A: „Heute werde ich Kevin vor allen zur Rede stellen. Er soll öffentlich blamiert werden, damit er endlich aufhört, diese Lügen über mich zu verbreiten."
L: „Was? Akio, das ist doch verrückt!"
A: „Wieso? Es ist die einzige Möglichkeit, dass er aufhört!"
A: „Ihr müsst mir helfen. Wir stellen ihn zusammen bloß, dann sehen alle, dass ich im Recht bin."
S: „Das ist ein dummer Plan. Du bist doch sonst klüger."
A: „Dumm? Wieso dumm? Ihr wisst doch, was er über mich sagt!"
Auron schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme.
Au: „Das bringt doch nichts, Akio. Das wird alles nur noch schlimmer machen."
L: „Genau. Was willst du damit erreichen? Dass die Leute noch mehr Angst vor dir haben?"
A: „Ich will, dass sie die Wahrheit sehen!"
Sophie sah ihn an, ihre Augen voller Enttäuschung.
S: „Akio… das ist nicht der richtige Weg."
A: „Dann sagt mir, was der richtige Weg ist!"
L: „Vielleicht mit einem Lehrer reden? Oder einem Vertrauenslehrer?"
A: „Lehrer? Ihr wisst doch, dass die mir nicht glauben! Die halten doch alle zu Kevin."
Au: „Das stimmt nicht. Die Lehrer sind neutral."
A: „Neutral? Das glaubst du doch selbst nicht! Kevin wird doch immer als Opfer gesehen, und ich bin der Böse!"
Lirien machte einen Schritt zurück und sah Akio kalt an.
L: „Ich glaube, du hast den Verstand verloren, Akio."
Akio riss die Augen auf. Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
A: „Was soll das heißen?"
L: „Das heißt, dass du Hilfe brauchst. Und zwar nicht von uns."
S: „Ich kann dir nicht mehr folgen, Akio. Du bist nicht mehr der, der du mal warst."
Au: „Wir können dir dabei nicht helfen."
Ohne ein weiteres Wort drehten sich seine Freunde um und gingen. Akio konnte kaum glauben, was er sah. Sie ließen ihn einfach stehen, ohne sich umzusehen.
A: „WAS SEID IHR NUR FÜR FREUNDE? MICH EINFACH ALLEINE ZU LASSEN!"
Seine Worte hallten über den Pausenhof, doch niemand drehte sich um. Akio spürte, wie eine Welle aus Wut, Verzweiflung und Enttäuschung durch ihn hindurchrollte. Seine Hände zitterten, und Tränen stiegen in seine Augen.
A: „Sie werden schon sehen. Wenn ich Kevin bloßgestellt habe, werden sie verstehen. Sie werden alle verstehen."
Akio presste die Zähne zusammen. Der Funken Hoffnung, dass er sie noch zurückgewinnen könnte, glomm schwach in ihm, doch er hörte die Stimme in seinem Kopf, die ihn antrieb:
?: „Sie sind nicht deine Freunde. Sie werden nie auf deiner Seite stehen. Du bist allein – und das ist deine größte Stärke."
Akio wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, nahm einen tiefen Atemzug und machte sich auf die Suche nach Kevin.
4.
Akio suchte den gesamten Pausenhof ab, bis er Kevin schließlich in einer Ecke stehen sah, umgeben von ein paar anderen Schülern. Ohne zu zögern, ging Akio auf ihn zu, seine Schritte schnell und entschlossen. Die anderen Schüler bemerkten ihn zuerst und zogen sich zurück, als sie den Ausdruck in Akios Gesicht sahen.
A: „Kevin! Es reicht mir mit deinem Scheiß!"
Kevin drehte sich langsam um, sichtlich genervt von Akios Auftauchen.
K: „Was willst du jetzt wieder, Akio? Willst du dich wieder blamieren?"
Akio packte Kevin am Kragen und zog ihn ein Stück zu sich heran.
A: „Ich werde dich vor allen hier bloßstellen, damit du endlich aufhörst, Lügen über mich zu verbreiten!"
Kevin grinste spöttisch und klopfte Akios Hand von seinem Kragen.
K: „Das ist echt armselig. Du kannst doch nicht mal vernünftig kämpfen."
Die Worte ließen Akio noch wütender werden. Er ballte die Fäuste und machte sich bereit, zuzuschlagen, doch bevor er reagieren konnte, hatte Kevin ihn bereits an den Armen gepackt und über die Schulter geworfen. Akio landete hart auf dem Boden, und der Aufprall nahm ihm für einen Moment die Luft.
K: „Du bist so ein Schwächling, Akio. Geh doch wieder weinen."
Kevin drehte sich weg, doch Akio griff nach seinem Fuß und zog ihn aus dem Gleichgewicht. Kevin fiel vornüber, konnte sich jedoch mit den Händen abfangen, bevor er mit dem Gesicht den Boden berührte. Akio rappelte sich auf, während Kevin immer noch auf allen Vieren war.
A: „Ist das alles, was du kannst, Kevin?"
K: „Das sagt der, der gerade noch auf dem Boden lag."
Akio trat Kevin mit voller Wucht in die Seite, sodass er zur Seite rollte. Ein Grinsen breitete sich auf Akios Gesicht aus, als er sich über Kevin beugte.
A: „Gefällt dir das? Willst du jetzt immer noch groß reden?"
Kevin spuckte aus und blickte Akio mit Hass an.
K: „Du bist echt widerlich."
Die Schüler um sie herum hatten inzwischen einen Kreis gebildet und starrten das Geschehen an. Manche murmelten leise, andere sahen einfach nur geschockt aus.
A: „Seht her! Ich lasse mir nicht länger etwas von ihm gefallen!"
Akio trat erneut auf Kevin ein, dieses Mal in die Rippen. Kevin krümmte sich vor Schmerz, doch er sagte nichts mehr. Akio hob seinen Fuß und trat ihn in die Seite, dann in den Bauch und schließlich in den Kopf. Blut floss aus Kevins Nase, doch Akio hörte nicht auf.
Eine Lehrkraft näherte sich der Menge und bahnte sich einen Weg durch die Schüler. Der Lehrer rief laut: „Was passiert hier? Hört sofort auf!" Doch Akio war in seiner Wut gefangen und bemerkte den Lehrer nicht.
Kevin versuchte sich aufzurichten, doch Akio trat ihm erneut ins Gesicht. Der Lehrer erreichte endlich die Szene und stellte sich zwischen Akio und Kevin. Er legte eine Hand auf Akios Schulter, doch Akio wirbelte herum und schlug instinktiv zu. Seine Faust traf den Lehrer an der Brust und ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln.
Der Lehrer starrte Akio entsetzt an.
Lehrer: „Akio! Was machst du hier? Hör sofort auf!"
Kevin lag blutüberströmt auf dem Boden, seine Augen halb geschlossen. Akio sah ihn an, seine Brust hob und senkte sich schnell. Die Menge um sie herum war still, niemand sprach ein Wort.
A: „Warum? Warum hat niemand etwas gesagt? Warum hat niemand ihn aufgehalten?"
Die Schüler um ihn herum begannen zu flüstern.
Schüler 1: „Er ist verrückt."
Schüler 2: „Hat er Kevin umgebracht?"
Schüler 3: „Das war nicht normal..."
Akio hörte ihre Worte und fühlte, wie die Wut in ihm erneut aufstieg. Doch dieses Mal mischte sich ein Gefühl von Leere darunter. Er hatte Kevin zur Strecke gebracht, aber es fühlte sich nicht an wie ein Sieg.
Die Stimme meldete sich in seinem Kopf, ruhig und sachlich.
?: „Ich habe dir doch gesagt, dass sie alle gegen dich sind. Sie verstehen dich nicht, Akio. Niemand versteht dich."
Akio sah sich um. Die entsetzten Blicke der Schüler, der fassungslose Ausdruck des Lehrers – es war klar, dass niemand auf seiner Seite war.
A: „Ich brauche niemanden. Ich habe recht, und das weiß ich."
Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während der Lehrer sich um den bewusstlosen Kevin kümmerte. Die Schüler begannen, sich langsam zu zerstreuen, doch das Bild von Akio, der über Kevin stand, würde ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben.
Die Stimme sprach erneut.
?: „Du hast gezeigt, was du kannst. Aber das ist erst der Anfang, Akio. Sie werden es alle verstehen. Früher oder später."
Akio nickte leicht, seine Lippen zu einem dünnen Strich gepresst. Er hatte sich bewiesen, doch er wusste, dass dies nicht das Ende war.