Kapitel 3: Unerklärliche Gegebenheiten
Nachdem Ferruccio nun fast drei Monate weg war, kam endlich der erste Anruf. Akio und Kiyomi hofften, dass er nun endlich mit guten Neuigkeiten anrufen würde – vielleicht, dass er bald nach Hause kommen könne.
Das Telefon klingelte, und Akio stürmte ins Wohnzimmer, wo Kiyomi bereits stand. Seine Wut auf Ferruccio war noch da, aber die Hoffnung war stärker. Vielleicht würde sein Vater sich entschuldigen und alles wäre wieder wie früher.
„Ist das Papa?" fragte Akio ungeduldig.
„Das werden wir gleich wissen", antwortete Kiyomi, nahm den Anruf entgegen und stellte ihn auf Lautsprecher.
„Jo, hallo! Bin ich auf laut?" kam Ferruccios Stimme.
„Ja, wir können dich super hören", bestätigte Kiyomi.
„Ist der kleine Mann auch da?" fragte Ferruccio.
Akio zog die Stirn kraus. „Hier ist kein kleiner Mann. Ich bin groß!"
„Hmmm… schade. Ich wollte eigentlich mit einem kleinen Mann sprechen."
Kiyomi grinste. „Ja, ich frage mich auch, wo er sein könnte. Ich sehe hier nur einen kleinen Jungen."
„HEY! Ich bin ein großer Mann!" rief Akio empört.
„Gut, kann ich dann mit Akio sprechen? Ist er da?" Ferruccio zog das Spiel durch.
„Nein!" rief Akio trotzig.
Kiyomi beschloss, ihn spielerisch aus der Reserve zu locken. Mit gespieltem Ernst fragte sie: „Akio? Akio, wo bist du? Hmmm… sehr schwierig. Wo ist er denn bloß?"
„Hey Mama, du kannst mich doch sehen!" rief Akio und begann wild mit den Armen zu winken, zu springen und auf das Sofa zu klettern, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Ich höre und sehe keinen Akio", sagte Kiyomi.
„Mama, das stimmt nicht, ich bin doch hier!" Akio wurde zunehmend verzweifelter, bis er erschöpft auf das Sofa sank.
„Ach, da bist du ja!" rief Kiyomi plötzlich. „Wo warst du denn?"
„Das war nicht witzig!" rief Akio mit verschränkten Armen.
„Hast du etwas aus dieser Situation gelernt?" fragte Kiyomi streng.
„Ja", murmelte Akio.
„Und was hast du gelernt?"
„Ich bin kein kleiner Mann!"
„Das war nicht die Lektion", erwiderte Kiyomi trocken.
Akio fühlte sich ertappt und stammelte eine leise Entschuldigung.
„Gut", sagte Kiyomi. „Aber merk dir: Wenn du so tust, als wärst du jemand anderes, werden die Leute dich ignorieren oder meiden. Verstehst du das?"
„Ja, Mama!"
„Verstehst du das wirklich?"
„Ja, wenn ich ein großer Mann bin, kann ich meine eigenen Regeln machen!"
„Das ist nicht, was ich gesagt habe. Wir reden später weiter darüber."
Akio spürte, dass „Wir reden später" nichts Gutes bedeutete, und sein Gesichtsausdruck ließ das klar erkennen. Doch Ferruccio zog das Gespräch auf sich.
„Wie geht's euch so? Wie geht meinem Sohnemann?" fragte er.
„Hmpf…" Akio wollte noch immer nicht wirklich mit seinem Vater sprechen.
„Hmmm… du willst also immer noch nicht reden…" seufzte Ferruccio.
„Er ist immer noch wütend auf dich", erklärte Kiyomi.
„Gibt es denn keine Chance, doch noch mit ihm zu reden?" fragte Ferruccio.
„Kommst du jetzt nach Hause?" platzte Akio schließlich heraus.
„Ich wünschte, ich könnte ja sagen, aber das geht nicht", antwortete Ferruccio zögerlich.
Akios Hoffnung zersplitterte. „Warum rufst du dann an?"
„Ich wollte euch Bescheid sagen, dass es länger dauern könnte, als ich zuerst dachte…"
„WAS? NOCH 100 JAHRE?" Akios Stimme überschlug sich.
„Akio, übertreibe es nicht so", schalt Kiyomi.
„Entschuldigung, Mama", murmelte Akio.
„Was heißt das, Ferruccio?" fragte Kiyomi besorgt. „Du hattest doch gesagt, es dauert nur ein paar Monate oder vielleicht ein Jahr. Was soll ‚länger' bedeuten?"
„Ich weiß es nicht genau. Es könnte länger als ein Jahr dauern."
„Du willst also doch nicht nach Hause!" schrie Akio plötzlich.
„Das ist nicht, was er gesagt hat", stellte Kiyomi klar. „Akio, lern endlich zuzuhören!"
Doch Akio hatte genug. „Bleib doch, wo du bist, Papa!" rief er, drehte sich um und lief davon.
„Akio, nein…" rief Kiyomi ihm nach, doch es war zu spät. Sie hörte das Zuschlagen seiner Tür.
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„Ich verstehe seine Reaktion", sagte Ferruccio am Telefon. „Ich schäme mich auch ein bisschen, aber es geht nicht anders."
„Was ist denn passiert?" fragte Kiyomi.
Ferruccio erklärte die fehlenden Hinweise, die sich scheinbar in Luft auflösten, und die Verdächtigungen gegen Geistmagier. Er sprach von den Morden und von einer möglichen organisierten Gruppe.
„Das klingt ja grauenhaft", sagte Kiyomi. „Ich verstehe, warum du länger brauchst."
„Ja, es ist wirklich kompliziert. Aber es zeigt mir, dass die Arbeit, die wir machen, wichtig ist", sagte Ferruccio. „Die Regierung lizenziert Magier wie mich, um genau solche Situationen zu lösen."
„Du bist einer der wenigen lizenzierten Magier, Ferruccio. Aber es klingt, als bräuchtet ihr mehr Unterstützung", entgegnete Kiyomi.
„Vielleicht. Aber in dieser Situation zählt jeder Schritt, den wir machen."
Ferruccio spürte, dass das Gespräch düster wurde, und setzte plötzlich einen spielerischen Ton auf. „Weißt du, ich vermute langsam, dass du Liebesmagie einsetzt."
„Was?" fragte Kiyomi verwirrt.
„Dein Charme. Wie erklärst du den sonst?"
„Ferruccio, hör auf mit deinem Unsinn!" fauchte sie, doch ihre Stimme verriet ein Grinsen.
„Deine Magie ist einfach unschlagbar, Kiyomi. Vielleicht solltest du dich auch lizenzieren lassen."
„Du bist unmöglich!" rief sie, während Ferruccio lachte.
Das Gespräch endete mit einem leichten Ton, doch Kiyomi wusste, dass Ferruccio in der Hauptstadt eine schwierige Zeit durchmachte. Sie hoffte nur, dass er bald sicher zurückkehren würde.
Später ging Kiyomi zu Akio, der immer noch in seinem Zimmer schmollte. Sie setzte sich zu ihm und versuchte, ihm zu erklären, was sein Vater gesagt hatte.
„Akio, ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber dein Papa versucht, viele Menschen zu beschützen. Er tut das nicht, weil er uns nicht liebt, sondern weil er alle beschützen will, auch uns."
„Aber warum muss er so lange weg sein?" fragte Akio leise.
„Weil es eine schwierige Aufgabe ist. Aber ich verspreche dir, dass er bald zurückkommt. Und bis dahin sind wir zusammen, okay?"
Akio nickte zögernd, doch seine Enttäuschung war noch nicht verschwunden.