Es war der letzte Tag der Prüfungswoche, und die Akademie schien von einer merkwürdigen Ruhe erfüllt. Der hektische Trubel, der die ersten Tage begleitet hatte, war einer stillen Anspannung gewichen. Die Studenten hatten ihre letzten Prüfungen abgelegt, und nun blieb nur noch die Zeit des Wartens. Es war der perfekte Moment für eine Reflexion – für einige mehr als für andere.
Amaya fand sich an diesem Nachmittag allein in einem der weitläufigen Gärten der Akademie wieder. Die Sonne senkte sich langsam und tauchte die Landschaft in ein goldenes Licht. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und eine sanfte Brise strich durch das hohe Gras. Es war friedlich, fast unheimlich ruhig, und doch fühlte sich Amaya alles andere als ruhig an. Ihre Gedanken waren immer noch bei Jackson, bei der intensiven Unterhaltung, die sie vor Tagen geführt hatten. Seitdem hatte sich zwischen ihnen etwas verändert – ein unausgesprochenes Verstehen, das zwar präsent war, aber genauso schwer zu begreifen war wie der Hauch eines Traums.
Sie hatte immer gedacht, dass sie sich niemals auf jemanden wie ihn einlassen würde. Jackson hatte zu viele Mauern um sich errichtet, zu viele Unsicherheiten, die er geschickt verbarg. Aber je mehr sie mit ihm zu tun hatte, desto mehr bemerkte sie, dass diese Mauern nicht aus Unüberwindbarkeit gebaut waren. Vielmehr waren sie eine Schutzmaßnahme, eine Antwort auf die Unsicherheiten, die er nicht loslassen konnte. Vielleicht war er nicht der arrogante Junge, der er zu sein schien. Vielleicht war er genauso zerbrechlich wie sie selbst.
In den letzten Tagen war sie zunehmend mit einer Frage konfrontiert worden: Was wollte sie eigentlich? Was wollte sie von Jackson? Und was wollte Jackson von ihr? Es war eine Frage, die immer wieder in ihr aufstieg, aber sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Sie hatte es geschafft, ihre Gefühle für ihn lange zu unterdrücken, doch der Moment, als sie sich gegenseitig in der Bibliothek begegnet waren, hatte alles verändert. Das Verlangen, ihm nahe zu sein, war stärker geworden, der Wunsch, die Kluft zwischen ihnen zu überwinden, noch größer.
Doch dann war da Erynn. Ihre frühere Freundin und Verbündete schien sich in letzter Zeit mehr und mehr von Jackson zurückzuziehen. Und Amaya wusste, warum. Erynn war nicht blind – sie hatte die Veränderung in Jacksons Verhalten bemerkt. Es war offensichtlich geworden, dass er sich zunehmend von ihr distanzierte, dass sein Fokus auf etwas anderem lag. Und Amaya konnte nicht anders, als sich gefragt zu haben, ob diese Veränderung etwas mit ihr zu tun hatte.
An diesem Nachmittag fand sie sich jedoch in einer anderen Situation wieder. Erynn hatte sie kurz vor dem Mittagessen angesprochen und war, wie es schien, mit einem stillen Entschluss auf sie zugekommen. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden Mädchen miteinander sprachen, aber es war das erste Mal seit dem Moment, als Erynn angefangen hatte, sich von Jackson zurückzuziehen. Sie hatten nie wirklich darüber gesprochen, was zwischen ihnen und Jackson vor sich ging, doch heute war der Tag, an dem Erynn es zu tun schien.
„Du merkst es, nicht wahr?" Erynn hatte in der Nähe eines Brunnens Platz genommen, ihre Hände ineinander verschränkt, als sie Amaya ansah. Ihr Blick war ruhig, fast nachdenklich, aber ihre Worte hatten eine unmissverständliche Schärfe. „Es ist anders geworden zwischen uns allen. Und es liegt nicht an dir, Amaya."
Amaya war überrascht von Erynns direkter Art, doch sie ließ sich nicht von ihrem eigenen, aufkommenden Unbehagen überwältigen. Sie setzte sich neben sie, stützte sich auf ihre Hände und sah in die Ferne. „Was meinst du?"
„Du weißt, dass Jackson sich von mir entfernt hat. Das ist offensichtlich." Erynn sprach ohne Umschweife. „Aber es ist nicht das, was du denkst. Und es ist auch nicht das, was ich wollte."
Amaya fühlte sich von den Worten getroffen, obwohl sie wusste, dass Erynn es nicht aus einer feindseligen Haltung heraus sagte. Die zwei Mädchen waren sich nie wirklich nahe gekommen, aber sie teilten ein gewisses Verständnis füreinander. Amaya konnte sehen, dass Erynn nicht versuchte, ihr zu schaden, sondern vielmehr mit einer Art Resignation sprach.
„Du hast ihn nie wirklich für dich selbst beansprucht, oder?" fragte Erynn mit einem kleinen, fast melancholischen Lächeln. „Du hast ihn nie für einen Moment in deinem Leben als den gesehen, der er wirklich ist, oder?"
„Was meinst du?" Amaya wusste, dass Erynn etwas wusste, etwas, das sie nicht ganz fassen konnte. Doch es war, als ob Erynn ihre Gedanken auf eine Weise durchschauen konnte, die sie nicht ganz verstand.
„Ich habe es bemerkt, Amaya. Du bist nicht blind. Ich weiß, dass du die Veränderung in ihm spürst." Erynn lehnte sich etwas zurück und schloss die Augen, als ob sie in Gedanken versunken war. „Er ist immer noch der gleiche Jackson, den du kennst. Aber er hat sich verändert, seit du ihn auf deine Weise siehst. Und das macht ihn... unsicher."
Amaya wusste, dass Erynn recht hatte. Sie hatte Jackson nicht absichtlich für sich beansprucht. Aber sie wusste auch, dass die Dinge, die sie für ihn empfand, etwas anderes waren. Sie war sich ihrer eigenen Unsicherheit bewusst, ihrer eigenen Zweifel, doch es war etwas anderes, etwas viel tieferes, das sie nicht einfach beiseite schieben konnte.
„Er hat mich nie wirklich gebraucht, oder?", sagte Amaya leise, mehr zu sich selbst als zu Erynn. „Ich glaube, das hat ihn immer von mir entfernt. Weil ich ihn nicht wirklich verstehe."
„Das stimmt", antwortete Erynn ruhig. „Er hat immer mehr in sich selbst gesucht. Und jetzt sieht er sich dir gegenüber und merkt, dass er sich in einer Art Falle befindet. Ein Teil von ihm möchte nicht, dass du ihn zu dem machst, was er immer vorgeben wollte, zu sein. Und ein Teil von ihm weiß nicht, wie er mit dem umgehen soll, was du ihm gibst."
Amaya nickte langsam, als sie die Bedeutung von Erynns Worten verstand. Sie hatte immer gedacht, dass sie für Jackson nur ein weiterer unbedeutender Teil seiner Welt war – jemand, den er entweder ignorieren oder unterdrücken konnte. Aber die Realität war komplizierter. Es gab Momente, in denen sie etwas in ihm wecken konnte, das er selbst nicht kontrollieren konnte.
„Was soll ich tun?" fragte Amaya, ihre Stimme fast flüsternd, als sie zu Erynn hinübersah. Die Frage war mehr eine Bitte um Verständnis als eine echte Lösung. Sie wollte wissen, wie sie mit Jacksons Verwirrung umgehen sollte. Wie sie sich inmitten dieser verwirrenden Gefühle zurechtfinden konnte.
„Du musst dich entscheiden, Amaya", sagte Erynn, ihre Stimme weich, aber bestimmt. „Du kannst ihn nicht einfach von außen betrachten und ihn gleichzeitig besitzen wollen. Du musst herausfinden, was du willst. Was du von ihm willst. Und wenn du ihm etwas gibst, dann gib es ohne Zögern."
Amaya schloss die Augen und atmete tief durch. Es war schwer, sich den Antworten zu stellen, die sie suchte. Doch sie wusste, dass sie sich bald entscheiden musste. Egal, wie sie es drehte, Jackson war ein Teil ihres Lebens geworden. Und er würde es weiterhin sein – für besser oder schlechter.
Und für den Moment blieb nur eines: sich ihren eigenen Gefühlen zu stellen.
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Das Kapitel zeigt den Konflikt, den Amaya mit ihren Gefühlen und der sich verändernden Dynamik zwischen ihr, Jackson und Erynn hat. Ihre Reflexionen über die Unsicherheiten von Jackson und die Erkenntnisse, die sie darüber gewonnen hat, werden hier deutlich.