Die letzten Worte Alexanders hallten in Annikas Gedanken wider, als er sie zurück durch die endlosen Korridore des Anwesens führte. Die Gesellschaft hatte sich aufgelöst, die Maskierten hatten sich in die Schatten zurückgezogen, doch die Energie des Raumes schien ihr noch immer in den Knochen zu vibrieren. Ihre Beine fühlten sich schwer an, ihr Geist war träge von den Ereignissen der Nacht, doch Alexander schien unerschöpflich, seine Schritte waren fest, sein Griff um ihre Hand sicher.
„Du hast dich bewiesen, Annika," sagte er, ohne sie anzusehen. „Doch um wirklich Teil meiner Welt zu werden, musst du lernen, was es heißt, mit ihr zu verschmelzen. Keine Geheimnisse. Keine Grenzen."
Annika hob den Kopf und sah ihn an. „Gibt es noch mehr, was du mir zeigen willst?"
Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um, seine Augen ein unruhiges Meer aus Licht und Dunkelheit. „Mehr, als du dir vorstellen kannst. Aber ich werde dich niemals zwingen. Jede Entscheidung, die du triffst, ist deine eigene. Alles, was ich verlange, ist deine Ehrlichkeit."
Annika nickte. „Ich vertraue dir, Alexander."
Er lächelte – ein Lächeln, das sowohl Wärme als auch Macht ausstrahlte. „Gut. Denn wo wir hingehen, gibt es keinen Platz für Zweifel."
Die Schwelle des Verborgenen
Alexander führte Annika zu einer Tür, die sie zuvor nie bemerkt hatte. Sie war unscheinbar, aus einfachem Holz, doch als er sie öffnete, offenbarte sich dahinter ein langer, gewundener Treppenaufgang, der nach unten führte.
„Wohin führt das?" fragte Annika, während sie vorsichtig die Stufen hinabgingen.
„Zu dem Ort, an dem die Geheimnisse dieser Gesellschaft aufbewahrt werden," antwortete Alexander. „Der Kern, die Essenz dessen, was wir sind."
Die Luft wurde kühler, je weiter sie hinabstiegen, und schließlich öffnete sich der Treppenschacht in eine große Halle, die in gedämpftem, roten Licht glühte. Die Wände waren mit Wandteppichen bedeckt, auf denen Szenen von Hingabe, Schmerz und Lust dargestellt waren. In der Mitte der Halle stand ein steinerner Altar, umgeben von einem Kreis aus gravierten Symbolen, die Annika fremd vorkamen.
Alexander trat vor den Altar und bedeutete Annika, näher zu kommen. „Dies ist der Ort, an dem alles begann. Jede neue Beziehung, jede neue Hingabe wird hier besiegelt."
Annika sah sich um, ihr Herz schlug schneller. „Was bedeutet das für mich?"
Alexander streckte die Hand aus und berührte sanft ihre Wange. „Das bedeutet, dass du heute Nacht deinen Schwur ablegen wirst. Du wirst erklären, wem du gehörst, Annika – dir selbst, mir, oder etwas anderem."
Annika spürte, wie die Luft um sie herum schwerer wurde. „Was, wenn ich nicht bereit bin?"
Alexander trat näher, seine Stimme sanft, aber eindringlich. „Dann enden wir hier. Es gibt keinen Zwang, Annika. Nur das, was du willst."
Der Schwur
Annika sah ihn an, ihr Herz raste, während ihr Verstand die Konsequenzen abwog. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es keinen Zweifel gab. „Ich will dir gehören, Alexander. Vollständig."
Ein Schatten aus Zufriedenheit huschte über sein Gesicht. „Dann knie nieder."
Annika ließ sich auf die Knie vor dem Altar sinken. Alexander nahm einen kleinen Dolch aus einer Nische im Stein, die Klinge schimmerte im roten Licht. Er hielt ihn vor sie hin.
„Das ist ein Symbol," erklärte er. „Eine Geste, kein Zwang. Du wirst dir selbst ein kleines Opfer bringen – nicht für mich, sondern um dir zu zeigen, dass du bereit bist, alles hinter dir zu lassen."
Annika zögerte nur einen Moment, bevor sie die Klinge nahm. Sie zog eine feine Linie über ihren Handrücken, und ein Tropfen Blut perlte hervor. Alexander nahm ihre Hand, führte sie zu einem silbernen Gefäß auf dem Altar und ließ den Tropfen hineinfallen.
„Mit diesem Schwur," sagte Alexander, „bist du Teil von etwas Größerem. Du bist nicht länger allein. Du bist meine, Annika, und ich bin dein."
Die Schatten der Wahrheit
Alexander zog sie hoch und hielt sie einen Moment fest. „Jetzt, da du eingetreten bist, gibt es Dinge, die du wissen musst. Dinge, die die Gesellschaft schützt – um jeden Preis."
Annika runzelte die Stirn. „Was für Dinge?"
„Geheimnisse, die dich verändern könnten. Die dich an den Rand bringen könnten," sagte Alexander ernst. „Aber ich verspreche dir, dass ich dich niemals allein lassen werde, Annika. Alles, was du siehst, werden wir gemeinsam tragen."
Er führte sie zu einer weiteren Tür am Ende der Halle. Sie war schwer und mit einem Schloss gesichert, das Alexander mit einem goldenen Schlüssel öffnete. Dahinter lag ein Raum voller Bücher, Artefakte und seltsamer Geräte, die Annika fremdartig vorkamen.
„Was ist das alles?" flüsterte sie, als sie die Fülle der Dinge betrachtete.
„Das Erbe der Gesellschaft," antwortete Alexander. „Jedes Mitglied hinterlässt etwas – Wissen, Erinnerungen, Werkzeuge. Sie erzählen von den dunkelsten Wünschen und den höchsten Freuden. Und jetzt, Annika, bist du ein Teil davon."
Sie trat näher, ihre Hand strich über einen alten, ledergebundenen Band. „Und was passiert, wenn ich etwas entdecke, das ich nicht verstehen kann?"
Alexander legte seine Hand auf ihre Schulter. „Dann bin ich da, um dir zu helfen, es zu ertragen."
Annika wusste, dass sie auf eine Reise ohne Rückkehr gegangen war. Und seltsamerweise erfüllte sie das nicht mit Angst, sondern mit einem brennenden Verlangen, mehr zu erfahren.