Amaya hatte den ganzen Tag über versucht, sich auf ihre Studien zu konzentrieren, doch ihre Gedanken waren wie gefangen in einem endlosen Kreislauf aus Fragen, Zweifeln und Hoffnung. Das Gespräch mit Jackson am See hatte etwas in ihr ausgelöst, das sie nicht mehr ignorieren konnte – er war wie ein Rätsel, das sie lösen wollte, ein Labyrinth aus Gefühlen und Unsicherheiten, in dem sie sich ständig verlief.
Als der Abend hereinbrach und die Lichter in den langen Fluren der Akademie die Dunkelheit vertrieben, wollte sie sich gerade in ihrem Zimmer zurückziehen, um dem Chaos in ihrem Kopf zu entkommen. Doch als sie die Tür öffnete, entdeckte sie eine kleine, gefaltete Nachricht auf dem Boden. Sie hob sie auf, und allein beim Anblick der markanten, kantigen Handschrift wusste sie, dass sie von Jackson stammte.
„Treffen wir uns am See. Jetzt."
Ihre Hände zitterten leicht, während sie die Nachricht las. Es war so typisch für Jackson, knapp und unnahbar zu bleiben, selbst wenn er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Amaya spürte, wie ihre Nerven sich anspannten. Was würde dieses Treffen bringen? War er endlich bereit, mit ihr ehrlich zu sein? Oder würde er sie erneut auf Distanz halten? Die Antworten würde sie nur finden, wenn sie sich ihm stellte.
Sie legte die Nachricht beiseite, zog sich ihren Umhang über und verließ ihr Zimmer. Die kalte Nachtluft begrüßte sie, als sie die Akademie verließ und den schmalen, gewundenen Pfad zum See entlangging. Der Mond hing hoch am Himmel, sein Licht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und tauchte die Szene in ein geheimnisvolles Leuchten. Amaya spürte ein Kribbeln, eine Mischung aus Nervosität und Erwartung, während sie sich dem See näherte.
Dort, am Ufer, stand Jackson. Sein Rücken war ihr zugewandt, seine Haltung angespannt. Seine Hände waren tief in die Taschen seiner Jacke gesteckt, und sein Blick war auf die stille Oberfläche des Sees gerichtet, als suchte er dort Antworten auf Fragen, die er nicht laut aussprechen konnte. Die Dunkelheit und das silberne Mondlicht ließen ihn fast wie eine Gestalt aus einem Traum wirken – oder einem Albtraum, dachte Amaya kurz, denn die Distanz, die er immer wieder zwischen ihnen aufbaute, fühlte sich oft genauso an.
Sie räusperte sich leicht, um ihre Ankunft anzukündigen. Jackson drehte sich um, und sein Blick traf ihren. Für einen Moment durchfuhr sie ein Schauer, als sie die Zerrissenheit in seinen Augen sah. Da war die gleiche Barriere, die er immer aufrechterhielt, aber auch etwas anderes – eine Spur von Verletzlichkeit, die er vergeblich zu verbergen versuchte.
„Du bist gekommen", sagte er schließlich. Seine Stimme war ruhig, fast monoton, doch sie spürte die Spannung darunter.
„Natürlich bin ich gekommen", antwortete Amaya und trat näher. „Du hast mich gerufen."
Jackson nickte, ohne etwas zu sagen, und wandte seinen Blick wieder dem See zu. Die Stille, die zwischen ihnen lag, war schwer und fast unerträglich. Schließlich sprach er, seine Worte waren leise, aber jedes davon traf sie wie ein Schlag. „Ich habe nachgedacht... über das, was du gesagt hast."
Amaya verschränkte die Arme vor der Brust, mehr aus Selbstschutz als aus Trotz. „Und? Zu welchen Schluss bist du gekommen?"
Er drehte sich wieder zu ihr um, und in seinem Blick lag etwas, das sie nicht deuten konnte, eine Mischung aus Reue, Unsicherheit und etwas, das sie fast Hoffnung nennen wollte. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Amaya", begann er langsam. „Ich... ich weiß, dass du mehr verdienst, als ich dir geben kann. Und trotzdem kann ich dich nicht loslassen."
Ihre Augen weiteten sich leicht, als sie seine Worte hörte. Es war das erste Mal, dass er so direkt sprach, ohne seine Gefühle hinter einer Mauer aus Sarkasmus oder Schweigen zu verbergen. Doch es reichte nicht. Nicht für sie. „Warum machst du es dann so kompliziert? Warum kannst du nicht einfach ehrlich zu mir sein?"
Jackson lachte leise, bitter. „Weil ich nicht weiß, wie. Mein ganzes Leben lang habe ich gelernt, alles zu unterdrücken. Gefühle, Schwächen, Wünsche , sie machen dich angreifbar. Und wenn du angreifbar bist, verlierst du. Ich weiß nicht, wie ich das ändern soll."
Amaya spürte, wie Wut und Mitgefühl in ihr aufstiegen, eine seltsame Mischung, die sie fast überwältigte. „Aber du musst es lernen, Jackson", sagte sie, ihre Stimme fester, als sie sich fühlte. „Nicht für mich, sondern für dich. Du kannst nicht ewig in diesem Käfig leben, den du dir selbst gebaut hast."
Er sah sie an, und für einen Moment schien es, als wollte er widersprechen. Doch dann senkte er den Blick, seine Schultern sackten leicht nach unten. „Es ist nicht so einfach, wie du denkst", murmelte er. „Ich will dich... mehr als alles andere. Aber ich habe Angst, dass ich dich kaputt mache, wenn ich mich dir öffne."
Amaya trat näher, bis sie fast direkt vor ihm stand. „Vielleicht solltest du mir das entscheiden lassen", sagte sie leise, aber bestimmt. „Ich bin nicht hier, weil ich glaube, dass du perfekt bist. Ich bin hier, weil ich glaube, dass du es wert bist. Aber ich kann das nicht allein durchstehen. Du musst mich reinlassen."
Jackson schwieg, doch seine Augen verrieten, dass ihre Worte ihn trafen. Schließlich hob er zögernd eine Hand und berührte ihre Wange. Es war eine sanfte, fast scheue Geste, die so gar nicht zu dem Jackson passte, den sie kannte. „Ich will es versuchen", flüsterte er. „Ich weiß nicht, wie, aber ich will es versuchen."
Bevor sie antworten konnte, beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie. Es war kein Kuss voller Leidenschaft oder wildem Begehren, es war ein Kuss voller Unsicherheit, als würde er jeden Moment zurückweichen können. Doch Amaya spürte die Ehrlichkeit darin, die rohe, ungefilterte Wahrheit, die er sonst immer vor ihr versteckt hatte.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, legte Jackson seine Stirn an ihre. „Das ist alles, was ich dir im Moment geben kann", murmelte er.
Amaya lächelte leicht, obwohl ihr Herz noch immer raste. „Das ist ein Anfang", sagte sie sanft. „Und das ist alles, was ich brauche."
Die Nacht legte sich wie ein Schutzmantel um sie, und für einen Moment fühlte es sich an, als wären sie allein auf der Welt. Doch Amaya wusste, dass dies erst der Anfang war. Der Weg, der vor ihnen lag, war voller Hindernisse, voller Zweifel und Unsicherheiten. Aber sie war bereit, ihn zu gehen.